wieder neu gelernt

Als ich etwa 12 Jahre alt war, hatte ich mir in den Kopf gesetzt Gitarre spielen zu lernen. Nach vielem Geflehe, das zunächst auf taube Ohren stieß, bekam ich dann die Chance zwei Jahre später und sorgte dafür, dass niemand mehr im Haus zur Ruhe kam – ich wurde sogar ganz gut mit der Zeit, mit viel Übung und dank der Umbaumaßnahmen, die das Gehirn vollführt, um neue Fähigkeiten zu verankern…

was ich damals mit Erstaunen feststellte war, dass ich die besonders komplexen (für untrainierte Finger komplizierten) Gitarrengriffe am besten über Nacht oder sogar mit ein paar Tagen Pause wie selbständig erlernen konnte – der geneigte Künstler und auch die Sportler wussten/wissen das sicherlich, dass Muskeln und mit ihnen eben auch die zuständigen Nervenbahnen sich erst in Ruhephasen wirklich ausbilden und verknüpfen können, deshalb werden ja gerade Pausentage nach intensiven Trainingseinheiten empfohlen…

in der Ruhe liegt die Kraft…

ich war fasziniert davon diese augenscheinlichen Sprünge außerhalb der Übungen zu erleben und mit diesen das Zusammenspiel von äußerer Reizsetzung und innerer Antwort – denn sich eine Handlung vors geistige Auge führen, sich diese also bewusst vorzustellen, unterstützt die tatsächliche Ausführung immens. Das gleiche gilt, wenn Bewegungen passiv ausgeführt werden (oder von außen unterstützt) – die zuständigen Nerven werden gereizt oder neue Netzwerke ausgebildet, in dem Maße, wie auch die Muskeln dadurch aufgebaut/erhalten werden…

über kurz oder lang…

das Unterbewusstsein (sprich der Aufbau in Ruhe) wiederum wird von den bewusst ausgeführten/vorgestellten Handlungen getriggert – das Nervensystem bildet neue Verknüpfungen, wenn etwas Neues erlernt wird (laufen, sprechen, schreiben, lesen), baut diese weiter aus und stärkt sie über die Zeit (unter Training) oder legt diese um, sollten sie nicht mehr zugänglich sein…

Stück für Stück…

Schmerzen, Spastik und Ausfallerscheinungen in den Händen (besonders in meiner Haupthand) sind Symptome, mit denen ich bereits in meiner Jugend und noch während des Gitarrespielens zu tun bekam – zumindest die Schmerzen. Willkürliche Bewegungen der Finger (es ist so gruslig wie es klingt) und Totalausfälle kenne ich seit meinen späten Zwanzigern und so durfte ich mit einem Mal nicht nur Wieder_Neulernen die Tasse zu halten oder das Messer zu führen, mir die Schuhe zu zuschnüren, den Schlüsselbund in der Tasche zu erfühlen und zu ergreifen, ich musste auch das Schreiben wiedererlernen…

die Stifte für Schulanfänger, die geeignet sind die Fingerstellung der Schreibhand zu unterstützen, ein paar Wochen Fleißübungen (mit beiden Händen – ich dachte wenn neu dann richtig) und viel Geduld brachten mich zurück auf den Stand eines Schreibanfängers mit Potenzial…

habe ich die Wichtigkeit der Geduld erwähnt…

über Monate und teilweise Jahre (manch verlorene Fähigkeit fiel erst nach langer Zeit überhaupt auf und es betraf nicht immer nur die eine Hand) erlangte ich das Handling neu. Und das es nicht lediglich wiedererlernt, sondern auch im Gehirn neu verortet, also neu erlernt werden musste, sah/sehe ich im anderen Halten der Tasse, Führen des Messers, Binden der Schuhe, sogar das Erfühlen des Schlüsselbundes ist nie mehr das gleiche geworden (jede Berührung wie mit Handschuhen) und eben auch an dieser Handschrift eines anderen Menschen…

ich habe noch immer starke Schmerzen in den Händen und entsprechende Einschränkungen, aber das ich den Großteil meiner eingebüßten Fähigkeiten zurück(neu)gewinnen konnte, ist etwas wofür ich täglich dankbar bin und an dem ich auch weiterhin ständig arbeite…

eine Sache, an der ich mich generell beim Umgang mit der MS halte und auch klammere, ist das bewusste Ansteuern von Nerven – ich setzte Reize aller Art, unterstütze die Durchblutung meiner Extremitäten, versuche Klavier zu spielen und fremde Sprachen zu erlernen und respektiere inzwischen die absolute Notwendigkeit meinem Körper und Geist auch Ruhe und Erholung zu gönnen…

nur meine Gitarre liegt seit Jahren traurig im Schrank – ich sollte sie endlich mal wieder herausholen…

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meine Leben

die Zeit steht nie still, der Weg ist nicht plan und das Leben somit immer im Wechsel…

das ist nicht allein der MS zu verdanken, denn jeder Lebensweg, eines jeden Menschen wird selten in nur eine, vonvornherein geplante Richtung laufen (können) und auch das ist gut und wertvoll…

es ist was es ist; dieses Wechselbad der Gefühle, diese trüben Gewässer im Stillstand, diese rauschende See, dieses endlose Meer…

und so lernte ich zwei Berufe, liebte (liebe bis heute) den zweiten und musste ihn aufgeben… begab mich ins Studium und schloss das erste noch ab (der Bachelor fürs Lehramt) und hatte schnell einzusehen, dass ich dem Stress nicht gewachsen wäre und was für mich noch bitterer war/ist, dass ich nicht konstant die Verantwortung für das Wohl Anderer zu tragen fähig bin (ich bin auch Tierpflegerin – der zweite Beruf – in dem ich an ähnliche Grenzen stieß zuletzt)…

es ist/war meine persönliche Entscheidung und vielleicht ist sie in einem kleineren Rahmen, für kurze Zeitabschnitte auch wieder tragbar; die Verantwortung… doch nicht mehr allein (ohne Aufsicht) und das war /ist eine der schmerzhaftesten Einsichten meiner bisherigen Leben…

der Lehrerberuf das neue Leben nach dem Tierpflegerdasein, das jeztige Studium (denn ich bin ein sturer Charakter und stehe ungern still) nun ein anderer Weg (auch im zweiten Versuch aufgrund von Einschnitten in der Konstitution, auf welche ich noch zu sprechen kommen werde zu passender Gelegenheit)…

und so drehe und wende ich mich, stoße mir oft genug den Kopf an Mauern, die sich im geplanten Leben aufgetan haben/immer wieder auftun (werden), wandere an diesen entlang, betrete den nächsten Weg, erlerne Neues, baue auf Bekannten, entdecke Unerwartetes und lebe das Leben bis es Zeit wird ins nächste zu wechseln…

schwimmen (nicht immer mit dem Strom), waten, tauchen und auch einfach mal treiben lassen… so wie es halt ist im Leben…